Die genaue Beobachtung der sie umgebenden Menschen steht meist am Anfang der künstlerischen Zusammenarbeit von Rico Scagliola (*1985, Uster/CH) und Michael Meier (*1982, Chur/CH). Das Künstlerduo sammelt audiovisuelle Attribute, welche die Identitäten einzelner Menschen oder Menschengruppen konstruieren und erkunden, wie sich diese zur Selbstwahrnehmung eines gesellschaftlichen Kollektivs verhalten. Auf diese Weise schaffen sie eindrückliche zeitgenössische Sittengemälde.
In ihrer ersten umfassenden Einzelausstellung zeigen Scagliola & Meier in der Kunst Halle Sankt Gallen eine Auswahl aus ihrer neusten fotografischen Serie. Nach Strategien der ‘street photography’ foto- grafierten sie während der letzten Jahre Menschen jeglichen Milieus und Alters sowie unterschiedlicher Herkunft unbemerkt im öffentlichen, halböffentlichen und privatisierten urbanen Raum. In verschiedenen Städten – darunter Zürich, Paris, New York und Beirut – wählten sie Orte aus, an denen das allgemein sichtbare Zusammenleben einer Gesellschaft stattfindet, an denen Menschen bestimmten All- tagshandlungen nachgehen und ihr repräsentatives Selbst und ihre Verhaltensformen ausserhalb ihrer Privatsphäre visuell besonders deutlich werden: Strassen und Plätze, Cafés, Bahnhöfe und Einkaufszentren.
Die grossformatigen, streng nach einem Raster angeordneten Fotografien zeigen eine Vielzahl von unterschiedlichen Szenarien: So erkennt man Reisende, die sich im Abendverkehr an den Stangen der Metro festhalten, eine auf der Strasse nach Orientierung suchende Familie, zwei junge Frauen, die sich in einem Einkaufszentrum die Auslage eines Schmuckgeschäftes ansehen oder Touristen, die am Flughafen ihre Koffer umräumen. In dieser dokumentarischen Darstellung halten die Künstler den gegenwärtigen Zustand einer Gesellschaft fest, die von einer sich rasant entwickelnden Umgebung geprägt ist. Dabei geht es ihnen jedoch nicht um das Portraitieren des einzelnen Individuums, sondern vielmehr darum, wie es im urbanen Raum – auf architektonische Transparenz angelegt und für die kommerzielle Nutzung optimiert – agiert. Dabei ist der Blick der Künstler immer auf die Menschen gerichtet und deren Versuch, sich gegen den Mainstream als originäres Selbst zu beweisen – ein Anspruch, an dem sie aber scheitern, weil sie sich letztlich doch in ihm bewegen.
In den scheinbar authentischen Szenen nimmt der Betrachende häufig eine voyeuristische Perspektive ein. Im Werk Pedicure (2014) blickt er von oben durch zerbrochene Scheiben auf eine blonde Frau mit hochgekrempelten Jeans, deren Blick starr auf das Handy gerichtet ist. Seltsam anmutende Skulpturen im Schaufenster, weisse Flaschen und andere Beauty-Utensilien, die sich auf zwei kleinen, kniehohen Holztischen angesammelt haben und inmitten dessen eine schwarz gekleidete Frau, die nach vorne gebückt die Füsse der Kundin behandelt, eröffnen ein spannungsvolles Bild, das die Differenz von räumlicher und geistiger Privatsphäre beleuchtet.
Durch die rohe Darstellung, mit der Scagliola & Meier jedes Detail wie die zerkratzten und zerbrochenen Fensterscheiben schonungslos und ungeschönt festhalten, stehen ihre Bilder im starken Kontrast zu den retuschierten Fotografien der uns alltäglich umgebenden sozialen Medien und Werbungen. Mit dem Innehalten in sonst flüchtigen Alltagssituationen versucht der Betrachtende sich von seinem abgestumpften Blick zu lösen, wobei eine in der Schwebe verharrende Momentaufnahme entsteht, welche die Grenzen zwischen freiem Verhalten und gesellschaftlich konstituiertem Habitus neu untersucht.
Vereinzelt ist der Betrachtende aber nicht lediglich Beobachter von aussen, sondern wird teil einer Szene wie in Girl Behind a Glass Door (2016). Der direkte Augenkontakt mit einem jungen Mädchen, das im Moment des Blitzes direkt in die Kamera blickt, löst eine kritische Reflexion über das eigene Bewegen im öffentlichen Raum aus. Der Mensch ist einerseits seiner Umgebung ausgeliefert, andererseits findet eine Anpassung seiner eigenen Handlungen an die urbane Architektur statt. Wann aber befindet sich der Mensch im Urzustand seines authentischen Selbst oder lässt sich diese Idee gar als Illusion widerlegen? Diese und andere Fragen untersucht das Künstlerduo und kreiert ein fluides Zeitzeugnis, das sich durch die Darstellung alltäglicher Beobachtungen den Mechanismen eines gesellschaftlichen Kollektivs anzunähern versucht.
Während Rico Scagliola & Michael Meier mit den fotografischen Arbeiten eine gegenwartsnahe Bestandsaufnahme des allgemein sichtbaren, alltäglichen Zusammenlebens verschiedener Gesellschaftsschichten gelingt, konzentriert sich ihre im letzten Raum präsentierte Arbeit Together (2017) auf eine Gruppe Jugendlicher, die sich an der letzten Herbstmesse in Basel auf der als Treffpunkt beliebten ‘Tagada’- Bahn vergnügen. Der Fokus der Kamera ist auf das Zentrum der Bahn gerichtet, das sich wie im Auge eines Sturmes träge verhält, während sich die am äusseren Rand der Bahn angelegten und mit Jugendlichen bevölkerten Bänke endlos um den Mittelpunkt drehen.
In dieser Mitte haben sich jene Teenager versammelt, die sich den Zentrifugalkräften trotzend und mit ernstem Blick an ihrem Standort verharrend, dem Zuschauer beweisen. Im Film ist eine Herangehensweise zu sehen, die im Gegensatz zu jener in den Fotografien die bewusste Selbstinszenierung des Menschen beleuchtet und die äussere Wahrnehmung durch eine entschleunigte Nahaufnahme zu brechen versucht. So wird durch die in Zeitlupe gefilmte und in kaltes Licht getauchte Filmsequenz ein Gefühl der Rastlosigkeit eingefangen, das getragen durch das begleitende Rauschen und das endlose Drehen selbst den Boden unter den Füssen des Betrachtenden zum Schwanken bringt. Zur melancholischen Grundstimmung trägt eine Soundcollage aus in der Messehalle aufgenommenen Geräuschen, dem Zischen von Stossdämpfern sowie verzerrten Popsongs bei. Entstanden ist ein Film, der präzise das unersättliche Bedürfnis nach Bestätigung und Selbstinszenierung beschreibt, das die jungen Menschen umtreibt und mit dem sich das Künstlerduo bereits intensiv in ihrer Arbeit Neue Menschen (2011) auseinandersetzte.
Auszüge aus einer Sammlung von Gesprächsfragmenten erweitern die Ausstellung um eine textuelle Ebene: Zufällig auf der Strasse Aufge- schnapptes, Erzählungen von Freunden und Monologe von YouTube-Videos fügen Scagliola & Meier zu einem ‘(main)stream of consciousness’, in dem banale Alltagserlebnisse genauso Erwähnung finden wie persönliche Geständnisse. Die Texte fügen sich in das Ausstellungsraster und agieren als unabhängiges Werk. Einen Kommentar zu den Fotografien sucht man in ihnen vergebens, denn sie sind in keiner offensichtlichen Korrelation angelegt. Wenn aber der anonymisierte Erzähler über seine soziale Rolle im Kontakt mit neuen Bekanntschaften reflektiert oder sich über die Angst vor einer intimen Beziehung äussert, lässt sich erkennen, wie sich der Text in das gesamte künstlerische Schaffen von Rico Scagliola & Michael Meier einfügt. Er bildet eine Metaebene, der neben den Fotografien und dem Film auf eine differenzierte Weise das komplexe Gefüge menschlicher Sitten ergründet.
Parallel zur Ausstellung erscheint die Doppelpublikation «years later...» bestehend aus einem Bildband und dem Textband «hours later...» bei Edition Patrick Frey.
Die Ausstellung wurde unterstützt von der Fachstelle Kultur Kanton Zürich, der Volkart Stiftung, der Stiftung Erna und Curt Burgauer sowie Swisslos/Kulturförderung Kanton Graubünden.
Rico Scagliola (*1985 in Uster/CH, lebt und arbeitet in Zürich) und Michael Meier (*1982 in Chur/CH, lebt und arbeitet in Zürich) arbeiten seit 2008 zusammen. Die Werke des Künstlerduos waren in folgenden Ausstellungen zu sehen: Zu Gast im Atelier Hermann Haller, Atelier Hermann Haller, Zürich (Einzelausstellung); Werkschau 2016, Haus Konstruktiv, Zürich; The Bad Mood Show, Plymouth Rock (2016); Building Modern Bodies, Kunsthalle Zürich; Swiss Art Awards, Basel (2015); Klöntal Triennale, Kunsthaus Glarus, Glarus/CH; Das Schwache Geschlecht, Kunstmuseum Bern (2014); Twisted Sisters, Museum Bärengasse, Zürich (2013); Junge Menschen, Fotomuseum Winterthur; Colasel, Drei – Raum für Gegenwartskunst, Köln (2012); Eins, Sinka+Weiss, Zürich (2011); Hypnose, Nicolas Krupp Contemporary Art, Basel (Einzelausstellung) (2010).