Cemile Sahin (*1990 in Wiesbaden/DE, lebt in Berlin/DE) ist eine bildgewaltige Erzählerin. Sie arbeitet in so unterschiedlichen Medien wie Film, Literatur und Installation. Ihr Werk ist geprägt von einer kritischen Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, Krieg und Gewalt. Dabei untersucht Sahin in raumgreifenden Erzählungen, wie Medien, Politik und Kriegsführung unsere Geschichtsbilder konstruieren.
«BB – BORN TO BLOOM» ist Sahins erste Einzelpräsentation in der Schweiz. Darin führt sie ihre Auseinandersetzung mit der Schnittstelle von Krieg und Natur fort, die sie bereits in mehreren Werken und Ausstellungen beschäftigt hat. Sahin interessiert, wie Natur nicht nur Schauplatz kriegerischer Konflikte ist, sondern auch Mittel militärischer Strategie: Landschaften werden zu Barrieren, natürliche Ressourcen zu Kriegsgründen, Wälder zum Tarnmuster. Nicht zuletzt ist Natur auch Trägerin kollektiver Identität, auf deren Zerstörung psychologische Kriegsführung abzielt. Solche Überschneidungen von Krieg, Natur und Technologie bilden geopolitische Verstrickungen, die Sahin in den Fokus rückt.
Im Zentrum der Ausstellung steht eine 4-Kanal-Videoinstallation, die zwei Topografien zusammenbringt: die Schweiz und Kurdistan. Beide Landschaften sind von eindrücklichen Bergpanoramen geprägt, die symbolisch hoch aufgeladen sind. Auf der Eingangsseite der LED-Wand die Schweiz: Matterhorn, schneebedeckte Passstrassen, Wanderkarten. Mit Rolex und Skilift stehen die Schweizer Berge als Postkartenmotive für ‹Swissness›, für Fairness, Präzision, Sicherheit, politische Stabilität und Natürlichkeit. Auf der Fensterseite Kurdistan: das Land, das keines sein darf, dessen vertriebenes Volk kämpferisch in den Bergen lebt und zwischen Waffen und Widerstand harrt. Cemile Sahin weiss um die Macht der Bilder, die kulturelle Klischees durch ihre mediale Dauerwiederholung aufrechterhalten. Auf der LED-Wand lässt Sahin die plakativsten Motive auf uns eindonnern, bis sie zu Kippbildern werden: Die romantisierten Schweizer Alpen werden als militärisches Dispositiv sichtbar, das von Bunkerstrukturen durchzogen und aktive Kulisse von Panzerübungen ist; auf der anderen Seite werden die kurdischen Bergzüge als Heimat greifbar, die Lebensgrundlage bietet und kulturelles Erbe sowie lang ersehnte Freiheit in sich trägt.
Beide Landschaften, so unterschiedlich ihre symbolische Aufladung ist, sind politisch miteinander verbunden. Am 24. Juli 1923 wurde der ‹Vertrag von Lausanne› im Château d’Ouchy unterschrieben. Der Vertrag legte die Grenzen der heutigen Türkei fest und untergrub somit die territoriale Souveränität des kurdischen Volkes. Bis heute prägen die damals geregelten geopolitischen Machtverhältnisse die kurdischen Bergregionen, das Zagros, Qendîl und Cudî-Gebirge. Derweil ist Lausanne zu einem weltweit führenden Entwicklungsstandort für Drohnen geworden, die als Waffensysteme ein wesentlicher Bestandteil der Kriege im Mittleren Osten sind.
Auch hier produziert der von Sahin untersuchte Zusammenhang von Technologie, Krieg und Natur einprägsame Bilder. Für ihre Atem raubende Videomontage sammelte sie wochenlang Bilder aus allen Ecken des Internets: Aufnahmen aus sozialen Medien, Handyvideos ihrer Cousins, Werbebilder von Luxusmarken, Beiträge des YouTube-Kanals der Schweizer Armee, kurdisches Archivmaterial, Comics, Imagefilme von armasuisse, Videospiele. In ihrem radikalen Bildumgang zeigt Sahin, dass «Medien nie unschuldig sind; sie sind Komplizen verschiedenster Gewaltformen» (Mitchell Akyiama). Bilder prägen unser kollektives Gedächtnis, werden politisch konstruiert, dienen zu Kriegszwecken. Die Unterdrückung eines Volkes geht oft mit der Auslöschung ihrer visuellen Kultur einher; so wurde die traditionelle kurdische Kleidung, die auf der kurdischen Seite von Sahins Videomontage immer wieder aufblitzt, in der Türkei verboten. Gleichzeitig üben Bilder, insbesondere in Kombination mit Text, eine regelrechte Sogkraft auf uns aus. Soziale Medien nutzen diese Wirkung in ihren Algorithmen aus – eine Logik, die Cemile Sahin in der Soundspur und den rasanten Schnitten zitiert.
Allerdings feuert Sahins Installation ihre Bilder nicht ohne Poesie ab. Ihre Videmontage dichtet eine Erzählung, die auf beiden Seiten gespiegelt wird – von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Dabei werden zwei Blumen zum Sinnbild der Ambivalenzen, die «BB – BORN TO BLOOM» untersucht. Die LED-Banner auf beiden Raumseiten widmen jeweils einer von ihnen einen Text. Auf dem Banner über der Bergtapete begegnen wir der Gula Xemgîn, die «traurige Blume». Sie blüht ausschliesslich in Höhenlagen, von April bis Mai, und steht für den kurdischen Mythos, nur in den Bergen wirklich frei zu sein. «Sie kann nicht in Gärten leben. Sie stirbt in Töpfen. Sie lehnt das Exil ab. Vielleicht nennen sie sie deshalb kurdisch.» Das LED-Banner über den Fenstern erzählt von der Geranie. Sie schmückt Balkone und Gärten im ganzen Land. «In einem Land, das für den Krieg trainiert, ohne ihn zu erklären, tragen sogar Blumen Tarnkleidung». Die Geranie gehört so sehr zum schweizerischen Landschaftsbild, dass ihr Rot in den Tarnanzug TAZ 83 einfloss – dessen Camouflage-Muster nun die Säulen der Kunst Halle Sankt Gallen überzieht. So schafft Sahin eine Metapher für die Überschneidung von Landschaft und Gewalt.
Sahins Werke bearbeiten komplexe Themen bewusst in popkultureller Ästhetik. Knallige Farben, Künstlichkeit, Werbeparolen, glänzende Oberflächen und glitzernde Motive gehören zu ihren typischen Stilmitteln. Der zweite Raum bringt eine Unterbrechung in die mediale Überladung: Acrylblumen in Epoxidharz fügen sich zu begehrenswerten Objekten, die wie überdimensionierte Nail-Art anmuten. Auch hier spielt Sahin mit stereotypen Vorstellungen. Gelten Blümchen und überlange Gel-Nägel als negativ konnotierte Attribute verniedlichter Weiblichkeit, steht der Ausstellungstitel, der an dieser Stelle zugleich Werk- und Serientitel ist, für einen Entfaltungswillen.
Im letzten Raum hat Sahin eine 2023 im Kunstverein Wiesbaden entwickelte Videoarbeit neu verräumlicht. In Gewehr im Schrank – Rifle in the Closet spricht eine KI-generierte Nachrichtensprecherin Verse aus Friedrich Schillers Wilhelm Tell in die simulierte Kamera. Wie Heidi ist der Urner Held eine identitäts-stiftende Figur der Schweiz, dessen Geschichte in idyllischen Landschaftsbildern eingebettet ist («Ihr Matten, lebt wohl,/Ihr sonnigen Weiden!»). Dieser Landschaft begegnen wir in computergenerierten Simulationen wieder, die an Schweizer Universitäten für Kriegstrainings entwickelt wurden. Gerahmt werden diese Motive von Point of Views militärischer Übungen und von der Künstlerin eigens generierter KI-Bildern von Sturmgewehren in Blumenfeldern; eine Anspielung darauf, dass die Schweiz eine der europaweit höchsten Schusswaffendichten in Privathaushalten hat.
Cemile Sahins Arbeiten hinterfragen die mediale, politische, und historische Konstruktion unserer Bilder. Dabei konfrontiert sie uns immer wieder mit unserem eigenen Blick auf die Welt. So wählt die Marketingsprache und Social Media Ästhetik der zentralen Videomontage auf der LED-Wand bewusst die direkte Ansprache: «YOU INVENT LEGENDS / YOU INVENT DREAMS / YOU INVENT TRUST». Doch auch hier kippen die textlich generierten Bilder, wenn uns bewusst wird, dass nicht wir die Adressat*innen sind, sondern die Berge.
Die Ausstellung von Cemile Sahin wird unterstützt von philaneo. Spezieller Dank an event ag, Grafitec AG und Esther Schipper, Berlin/Paris/Seoul.