Viel befahrene Schnellstrassen und verlassene Gassen, urbane Milieus stellen gleichzeitig Vorlage und Lebensraum von Wesley Willis und Ingo Giezendanner dar. Nebst ihrer Faszination für städtische Szenarien verbindet beide zudem eine intensive Beschäftigung mit dem Medium Zeichnung. Ihre Arbeiten, die in Kugelschreiber, Filzstift oder Tusche ausgeführt sind, vermitteln Stadtansichten auf Papier, Karton oder ganzen Ausstellungswänden.
Ingo Giezendanner (*1975) ist ein Flaneur, der auf seinen Reisen Weltstädte durchstreift und diese in Zeichnungen festhält. Plakativ und meist schwarz-weiss gehalten, erinnern seine Bestandesaufnahmen an eine Comicstrip-Ästhetik. In der Mitte des ersten Ausstellungsraums hat er eine Zeichnungsinstallation eigens für die Kunst Halle angefertigt. Nicht etwa London oder Amsterdam, sondern St. Gallen selbst wird hier zur Protagonistin. Bezeichnenderweise sucht man vergeblich nach Wahrzeichen wie Dom oder Stiftsbibliothek. Giezendanner beschäftigt sich kaum mit Wiedergaben von repräsentativen Postkartenmotiven. Stattdessen gilt sein Augenmerk bescheidenen Plätzen, unspektakulärem Strassen und Häuserzeilen, die normalerweise der Aufmerksamkeit des hastigen Passanten entgehen. Inmitten der breitformatigen Stadtansichten fokussiert Giezendanner in dokumentarischer Weise gerne unbeachtete Details wie Baustellen oder Müllcontainer. Durch seine Wahrnehmung als stiller Beobachter eröffnet sich dem Publikum ein unbekannter Blickwinkel auf die Ostschweizer Metropole. Ein Stadtporträt, das an Stelle von den viel zitierten Motiven kein ideales Abbild zeichnet, sondern eine Differenzierung und Fokussierung auf den Kosmos einer Stadt.
Einem Undergroundpublikum ist der Name Wesley Willis(1963-2003) längst durch seine Musik ein Begriff. Neben der musikalischen Tätigkeit fertigte der 2003 verstorbene US-Künstler tausende Zeichnungen über seinen Wohnort Chicago an. Dass in der Geburtsstadt des Wolkenkratzers die Skyline sein Stadtbild dominiert, überrascht nicht. Die Ansichten geben jedoch keine naturgetreue Abbildung der Midwest-Metropole wieder. So findet sich in einigen Ansichten aus den achtziger Jahren ein von Willis fingiertes Hochhaus, das an den Fassaden ein vertikales Band mit gestrichelten Linien aufweist. Aber auch der Sears Tower, das höchste Gebäude der USA, ist auf beinahe allen Zeichnungen zu sehen, obwohl es vom Standpunkt des Zeichners oft nicht sichtbar ist. Nebst bekannten, immer wiederkehrenden Motiven wie dem des Lake Shore Drive, der Civic Centre Plazamit der Picasso Stahlskulptur oder alltäglichen Gebäuden wie Fastfoodlokalen, widmete Willis unzählige Arbeiten einem weit weniger prominenten Sujet: dem Dan Ryan Express Way. Diese Schnellstrasse mit den sich stauenden Autos und Lastwagen verbindet die hauptsächlich von Schwarzen bewohnten South Side mit Downtown Chicago. Es erscheint fast so, als ob diese Schnellstrasse eine Metapher für den Wunsch Wesley Willis' ist, die zwei verschiedenen Welten zu überbrücken. Zumindest ansatzweise lässt sich an der Bilderwand mit den 25 Zeichnungen erahnen, wie obsessiv er sich zeitlebens mit „seinem“ Freeway auseinandergesetzt hat, den er immer in einer perspektivischen Verzerrung (Fischaugenperspektive) wiedergab.
Im mittleren Ausstellungsraum findet sich einiges an Material, das aus weiteren Projekten der beiden Künstler stammt. Ingo Giezendanner zeigt in zwei Vitrinen Zeichnungsbücher und sämtliche Ausgaben seines Fanzines GRR. Ausserdem ist es der von ihm animierten Videoclip Gib mer der Zürcher Rapperin Big Zis zu sehen. Von Wesley Willis sind Songbücher, CD-Hüllen und Alltagsnotizen ausgestellt. Ein Dokumentarfilm gibt zudem Einsicht in das Leben sowie sozialen Umfeld von Willis.
Im hinteren Teil der Kunst Halle werden die Arbeiten Giezendanners denen von Willis direkt gegenübergestellt. Dabei wird schnell erkennbar, dass es sich nicht um einen Wettbewerb handelt, wie der Ausstellungstitel WW vs. GRRRR andeutet, sondern darum, die verschiedenen Möglichkeiten des Mediums Zeichnung darzustellen. Die sechs Werke von Wesley Willis scheinen gegenüber einer mächtigen Installation von Ingo Giezendanner beinahe zu verschwinden, behaupten sich jedoch aufgrund ihrer zerbrechlichen Ausarbeitung. Die wandfüllende Arbeit Giezendanners hingegen, bringt eine riesige Menge an Bildern zusammen. Auf einem Ausschnitt von New York montiert, finden sich kleinere Zeichnungen von London, Islamabad, Karachi, Lahore oder Zürich. Videoanimationen zeigen ebenfalls Momentaufnahmen einer Umwelt, in der sich Giezendanner für längere oder kürzere Zeit aufhielt. An der Gegenüberstellung wird auch klar, dass sich die beiden Künstler jeweils obsessiv der entsprechenden Umgebung widmen und durch ihre Arbeiten eine persönliche Perspektive vermitteln.
WW vs. GRRRR versteht sich im Weiteren als ein Versuch, zwei Positionen zusammenbringen, die im herkömmlichen Ausstellungsbetrieb separiert gezeigt würden. Wesley Willis Arbeiten fanden Zeit seines Lebens und bis heute keinen Eingang in Kunstinstitutionen – vielleicht, weil er an Schizophrenie litt. Die Gegenüberstellung mit dem Talent Ingo Giezendanner versucht denn auch, gängige Praxen der Kunstinstitutionen zu hinterfragen. WW vs. GRRRR agiert somit durchaus als ein kritisches Format, mit dem die Grundlagen und Vorraussetzungen des Kunstbetriebs ausgeleuchtet sowie das Beharren auf gängigen Ausstellungskonventionen thematisiert werden.
Wir danken der Glas Trösch, St. Gallen, sowie der Videocompany, Zofingen, für ihre freundliche Unterstützung.