Die bevorzugten Arbeitsinstrumente von Anna Witt (*1981, Wasserburg am Inn/DE) sind Performance und Video. Damit untersucht die Künstlerin soziopolitische Themen und wie der Körper, sein Aktionsradius und seine Bewegungen auch immer Träger einer Botschaft sind. Für die Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen hat Anna Witt ein ortsspezifisches, filmisches Projekt in Zusammenarbeit mit dem Debating Club der Universität St. Gallen (HSG) umgesetzt (Die Suche nach dem letzten Grund, 2016). In Debattierclubs, die insbesondere im angelsächsischen Raum eine lange Tradition haben, trainieren Studenten neben rhetorischen Fähigkeiten ebenso ihre Analyse- und Argumentationsfähigkeiten und messen sich in Wettkämpfen mit anderen Debattanten. In der Regel folgt einer viertelstündigen Vorberei- tungszeit auf ein meist moralisch kontroverses Thema eine 7-minütige Rede. Neben der Argumentation (Sachverstand und Urteilskraft) werden Sprachkraft (rhetorische Stilmittel, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke, Emotionalität), Auftreten (Stand und Gestik) und Kontaktfähigkeit bewertet. Zentral ist, dass die Debattanten einen vorgegebenen Standpunkt vertreten müssen, ganz unabhängig von ihrer persönlichen Meinung. In Anna Witts für die Ausstel- lung konzipierte und produzierte Arbeit halten drei Mitglieder des Debating Club der HSG ihre argumentativen Reden zur brisanten Frage “Warum nicht über die Wahrheit sprechen?“. Schauplatz ist ein Ort im öffentlichen Raum der Stadt St. Gallen: eine Promotionsnische im Einkaufszentrum Shopping Silberturm. Bei aller Anerkennung für die Fähigkeiten der Debattanten und trotz des Wissens, dass es sich um einen Sport handelt, lösen die Reden ein gewisses Unwohlsein aus und lassen die Betrachtenden darüber nachdenken, wie Sprache als (Macht-)Instrument eingesetzt wird, über die Austauschbarkeit von Meinungen und die beängstigende Beeinflussbarkeit von Zuhörer- Innen, nicht zuletzt in der Politik.
Im letzten Ausstellungsraum zeigt Anna Witt zwei ihrer jüngsten Arbeiten. In der Videoarbeit Gemeinschaft ohne Eigenschaften (2015) beobachtet die Künstlerin mit ihrer Kamera eine in einem neutralen, mit Klappmatratzen ausgestatteten Raum versammelte Gruppe von Personen. Die ProtagonistInnen wurden auf der Strasse im Hamburger Stadtteil St. Pauli angesprochen und
eingeladen, einige Zeit zusammen zu verweilen. Die Kamera tastet den Raum und die Beteiligten dieser erzwungenen Gemeinschaft auf Zeit langsam ab. Teils nähern sie sich gegenseitig an, teils warten sie unbeteiligt. Auf Kopfhörern sind Aussagen von Passanten zu hören – zum einen über Gruppen, die aus Zwang oder Not entstehen und zum anderen über Modelle freiwillig- ideologischer Gruppen. Die zwei separaten Tonspuren eröffnen unterschied- liche Assoziationen und Deutungsrichtungen des Videos.
Mit Durch Wände gehen (2015) zeigt Anna Witt in einer Multi-Media-Installa- tion ein prozessuales Projekt, das über den Zeitraum von einem Jahr entstanden ist. Im Zentrum stehen zwei individuelle Fluchtgeschichten: die eines jungen Syrers, der 2014 nach Sachsen geflüchtet ist, und die einer aus der DDR geflohenen Deutschen. Erzählt werden die beiden unterschiedlichen und zeitlich weit auseinander liegenden Geschichten in einem Einkanal-Video, in dem beide ProtagonistInnen über Beweggründe und Erfahrungen ihrer Flucht berichten. Sie verwenden dabei die Gesprächstechnik der Paraphrase, bei der kurze Passagen erst erzählt und von der zuhörenden Person protokolliert und dann wiederholt werden. Es ist allerdings nie die erzählende Person zu sehen, sondern nur die zuhörende und nacherzählende. Die Parallelisierung der Geschichten wendet sich bewusst gegen die Tat- sache, dass Flucht sehr unterschiedlich konnotiert und bewertet wird, je nachdem, wer aus welchem Grund wohin flüchtet. Ein auf Bannern zu lesender Text – der während der zweiten Phase des Projektes entstanden ist – gibt Gesprächsfragmente über die Motivationen und Ziele der Involvierten wieder. Ein Zweikanal-Video schliesslich zeigt kurze Sequenzen, in denen die beiden ProtagonistInnen Szenen ihrer Flucht nachstellen, sowie Gespräche und weitere Berichte ihrer Erlebnisse, bei denen sie sich unter anderem Tage- bucheinträge und Handyfotos zeigen. Kommentare der Mitwirkenden zu den gezeigten Szenen werden schriftlich eingeblendet oder auf der Tonspur als Stimmen aus dem Off eingefügt. Sowohl die beiden ProtagonistInnen als auch die Künstlerin besprechen ihre eigenen Rollen im Herstellungsprozess. Präsentiert werden die beiden Videoarbeiten sowie der Text in einem installativen Setting aus Geländerrohren und PVC-Bannern mit Medienbilder der aktuellen Fluchtkrise und solchen aus der DDR. Die Selektion trafen die ProtagonistInnen aus einem von der Künstlerin erstellten Medienarchiv, wobei beide jeweils Bilder der Fluchtgeschichte der anderen Person auswählten, welche Assoziationen zur eigenen Geschichte weckten.
Anna Witt (*1981, Wasserburg am Inn/DE) lebt und arbeitet in Wien. Bis 2008 studierte sie bei Asta Gröting, Magdalena Jetelova und Monica Bonvicini in München und Wien. Einzelausstellungen (Auswahl): Kunstraum Lakeside, Klagenfurt; 8. Salon, Hamburg (2015); Galerie Tanja Wagner, Berlin; Stacion, Center for Contemporary Art, Prishtina, Kosovo (2014); Marabou- parken, Sundbyberg (Stockholm/SE)(2013); Magazin 4, Bregenzer Kunstverein, AT (2011). Gruppenausstellungen (Auswahl): Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig; Lentos Kunstmuseum Linz; West Space, Melbourne; 1. Vienna Biennale, MAK, Wien; OFF-Biennale, Budapest; Visual Culture Research Center, Kiev, UA (2015); Kunstverein Wolfsburg; Kunsthalle Wien (2014); Austrian Cultural Forum, New York; MOCA Museum of Contemporary Art Taipei; MoBy – Museums of Bat Yam, ISR; NGBK, Berlin (2013); Kunstmuseum St. Gallen; Salzburger Kunstverein (2012); 6. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (2010); Manifesta 7 (2008).